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Autor, Cyborg und Parallelwelten

Für einen Science-Fiction-Autor trifft es das Lebensgefühl des Schreibens ganz besonders dann, wenn neue Welten gefunden und beschrieben werden. Wurmlöcher und Sternentore bieten eine sichere Gewähr, weit entfernte Planeten und fremde Zivilisationen schnell zu erreichen. Und schon ist man mitten in der Story. Für mich als Cyborg-Autor mit Audioprozessor gibt es da noch ganz andere Möglichkeiten! Jeden Morgen, wenn ich aus dem Hörnebel der Nacht aufsteige und meine Ersatzteile anlege, betrete ich eine unglaubliche Welt der Töne. Durch das offene Fenster höre ich das Singen der Vögel, das Brummen der Motoren und all die Bewegungen der Arbeits- und Lebenswelt meiner Mitmenschen. Jeden Tag wache ich in dieser neuen Welt auf, die mir vormals fast verschlossen blieb. Denn der Audioprozessor und das Implantat geben mir Frequenzen zurück, die ich lange nicht mehr gekannt hatte, auch nicht mit einem Hörgerät. 

Die farbliche Gestaltung der Abdeckung des Audioprozessors bringt mich auf eine Science-Fiction-Idee. Warum nicht einen Transmitter für den Akustik-Ozean der unendlichen Weiten einbauen und neue Welten erkunden? Die nie dagewesenen zugeschalteten Frequenzen eröffnen plötzlich eine mehrdimensionale Polarisationsachse und machen alle Parallelwelten hörbar. Ein Frequenzwandler schaltet die passenden Photonen hinzu und schon bin ich eingetaucht in ein Paradies der Töne, Melodien und Hörereignisse einer fremden, bislang nie dagewesenen Welt der klingenden Harmonie- und Farbkreationen.

Nun muss ich nur noch Spezies finden, die zu der neuen Welt gehören. In eine parallele Klangwelt passen ganz gut fliegende Stimmbänder und schwimmende Hörmuscheln. Gewaltige Tonröhren und flüsternde Tonknöchelchen stehen in der Landschaft herum. Klangkugeln rollen über riesige Teppiche, die wie Trommelfelle zwischen den Bergen hängen und von Klöppeln, die bis zu den Membranen wachsen, angeschlagen werden. Trompetenblumen und Schneeglöckchen, Singdrosseln und Regenpfeifer in allen Größen und Farben stimmen in das Konzert ein. Schwingende Lianen geben Harfenklänge hinzu. Majestätische Quallen mit Glockenschlag und singenden Polyphon-Fäden begrüßen jeden Neuankömmling in ihrer Welt. Und wer als Gast ein paar Harmonien von sich gibt, erhält unter dem singenden klingenden Märchenbaum harmonische Kreationen á la Carte. Alles muss bezahlt werden mit klingenden Eigenkreationen, weil man sonst auch gar nicht verstanden wird.

Aber das Kreativste an dieser Klangwelt wäre die ökologische Energieversorgung. Wie bei allen künstlerisch gelungenen Dingen, wird die Hauptenergie aus den Klängen selbst bezogen. Sobald die Klangwesen singen, zwitschern und klingen, entsteht bei den Hörenden und Mitsingenden eine Motivation, die im Vergleich zu unserer technischen Welt nichts anderes wäre als die Energieproduktion von Generatoren. Wer kennt nicht den immensen Energieschub einer gelungenen Melodie!

Ach, könnte es doch auf unserer Erde auch so einfach sein: Du stehst am Morgen auf und schon ist die Energieversorgung für den ganzen Tag gesichert; einfach nur, weil du die Melodien der Vögel mitsingst und das Rascheln der Igel, das Brummen der Käfer und Bienen und der erhabenen Arbeits- und Lebenswelt deiner Mitmenschen hörst. Man könnte meinen, ganz so, wie es mir jeden Morgen mit dem Einschalten der beiden Audioprozessoren geht.

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