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Liams Ertaubung schweißte uns zusammen

Ein Interview mit Patrik Z. aus der Schweiz, dessen Sohn Liam mit 2 Jahren ertaubte.

EWH: Patrik, euer Sohn Liam wurde 2010 im Kanton Wallis geboren. Konnte er damals noch hören?

PZ: Ja. Das Neugeborenen-Hörscreening, das wir gleich nach der Geburt machen ließen, ergab keine Auffälligkeiten. Liam entwickelte sich lautsprachlich altersgemäß. Dann allerdings erkrankte er im zweiten Lebensjahr an einer Lungenentzündung. Während des stationären Krankenhausaufenthalts wurde er mit Antibiotika behandelt. Nach seiner Entlassung bemerkten wir eine gewisse Veränderung an ihm. Liam schaute dauernd, ob wir auch da waren. Vermutlich hatte sein Hörverlust zu diesem Zeitpunkt bereits eingesetzt.

EWH: Welche Schritte unternahmen sie daraufhin?

PZ: Wir suchten unseren Hausarzt auf, der unsere Vermutung hinsichtlich Liams Schwerhörigkeit bestätigte und uns an einen Spezialisten verwies. Das war Dr. Mattheus Vischer von der HNO-Abteilung des Inselspitals Bern. Er führte diverse Untersuchungen und Hörtests mit Liam durch. Meine Frau, die damals hochschwanger war, und ich warteten währenddessen beide die Untersuchungen ab. Wir hatten zwar den Verdacht gehegt, dass Liam etwas schlechter hört, doch da er nach wie vor reagierte, machten wir uns keine allzu großen Sorgen. Was dann kam, zog uns jedoch den Boden unter den Füßen weg. Dr. Vischer holte uns ins Besprechungszimmer und bat uns, uns zu setzen. Er erklärte uns, dass die Messungen bis 100 dB durchgeführt werden, doch Liam unter 100 dB keinerlei Hörreaktion zeigte. Für uns brach eine Welt zusammen. Der Schock für meine Frau war so groß, dass bei ihr die Wehen einsetzten und unser zweites Kind früher als geplant zur Welt kam.

EWH: Wie kamen Sie mit der Diagnose Hörverlust zurecht?

PZ: Dr. Vischer machte uns zum Glück gleich Hoffnung. Er klärte uns über die Möglichkeit des Cochlea-Implantats auf, sofern der Hörnerv intakt sei. Unser Problem war ja, dass wir nicht wussten, warum Liam eigentlich ertaubt war. Durch die Antibiotika, die er gegen die Lungenentzündung bekam? Oder wegen eines Virus in Verbindung mit der Pneumonie? Das kommt zwar selten vor, wäre aber auch ein möglicher Grund. Dr. Vischer versicherte uns, alles für die Cochlea-Implantation in die Wege zu leiten.

EWH: Wie viel Zeit verging bis zur Implantation?

PZ: Alles ging recht rasch. Wir ließen alle notwendigen Voruntersuchungen machen, die ergaben, dass der Hörnerv funktionierte. Ich erinnere mich an den Anruf von Dr. Vischer. Ich musste mich setzen, so aufgeregt war ich. „Übermorgen hätten wir einen Operationstermin für Liam. Wenn Sie ihn implantieren lassen wollen, können Sie morgen mit ihm ins Inselspital kommen“, sagte er zu mir.

Ich traf diese Entscheidung in der Sekunde. Meine Frau und ich wollten beide, dass Liam wieder hören kann. Und so packten wir unsere Sachen und fuhren nach Bern. Zwei Tage nach dem Anruf erhielt Liam sein erstes CI.

Uns war eigentlich gar nicht bewusst gewesen, wie gut Liam seine Schwerhörigkeit verstecken konnte. Er beobachtete die Welt um sich herum sehr genau, las von den Lippen ab und deutete die Mimik der Menschen um ihn herum. Das macht es für uns auch schwer, den genauen Zeitpunkt seiner Ertaubung festzustellen. Wenn wir Liam zum Beispiel baten, seine Windel in den Mülleimer zu werfen, tat er das sofort. Er sah uns an, bemerkte die typische Handbewegung zum Mülleimer hin und wusste, was wir von ihm wollten. Dieses kleine Spiel hatte sich schon vor seiner Lungenentzündung entwickelt, deshalb fiel uns auch die Veränderung nicht auf.

EWH: Stand die Entscheidung für ein Cochlea-Implantat jemals in Frage?

PZ: Nein. Meine Frau und ich wollten beide, dass Liam wieder hören kann. Wenn die Voruntersuchungen ergeben hätten, dass eine Implantation nicht möglich ist, hätten wir selbstverständlich alle die Gebärdensprache erlernt. Aber Liam war hörend geboren, die gesamte Familie lebt in der hörenden Welt. So stand der Entschluss für das CI schnell fest. Und wir haben die Entscheidung nicht bereut.

Vor der Cochlea-Implantation: Die häufigsten Fragen von Kandidaten

EWH: Wie wirkte sich Liams Ertaubung auf Ihr Familienleben aus? Wie reagierte Ihr Freundeskreis?

PZ: Die Diagnose schweißte uns noch mehr zusammen, meine Frau und ich stützten uns gegenseitig und bewältigten diese schwierige Zeit gemeinsam. Bei den Freunden trennte sich die Spreu vom Weizen, wir erkannten die wahren Freunde. Die, die sich wirklich für uns interessierten, die mit uns mitlitten und mithofften und voller Interesse Liams Hörentwicklung verfolgten.

Liams Ertaubung wirkte sich außerdem auf unseren Wohnraum aus. Mit kleinen Adaptierungen erleichtern wir ihm das Hören. Im Wohnzimmer liegt ein großer Teppich, ein großes Bild und Pflanzen schlucken ebenfalls einiges an Lärm. Vor allem jenen, den die beiden kleinen Brüder machen.

EWH: Wie war Liams Hörentwicklung?

PZ: Bei der Erstanpassung blickte Liam zuerst mit großen Augen um sich. Je mehr Töne ihm vorgespielt wurden, desto mehr lachte er, er strahlte richtig! „Mama“, „Papa“, „nein“ waren bald seine ersten Worte mit dem Hörimplantat. Und mit jeder Nachjustierung bewegten wir uns wieder einen Schritt nach vorn. Wir wussten: Wir sind auf dem richtigen Weg. Auch den Audioprozessor akzeptierte Liam sofort und machte nie Anstalten, ihn abzulegen. Nach den Erfolgen der ersten Monate entschlossen wir uns zur Implantation am zweiten Ohr. Damit ging es noch schneller bergauf.  Von Anfang an besucht Liam einmal wöchentlich eine Audio- und Sprachtherapie. Wir nutzten alle Angebote, die wir bekommen konnten, auch technische Hilfsmittel wie FM-Systeme für Schule und Fernsehen.

Liam war schon immer ruhiger als seine beiden Brüder. Er liebt seine Implantate, aber er braucht Ruhephasen, in denen er sich in sein Zimmer zum Lesen oder Legospielen zurückzieht. Dabei legt er übrigens meistens einen Prozessor ab. Außerdem ist er ein extrem visueller Typ. Liam beobachtet seine Umwelt ganz genau. Kaum eine Ameise entgeht seiner Aufmerksamkeit! Er sieht die Kondensstreifen eines Flugzeugs noch bevor der Rest der Familie es überhaupt hört. Liam zeigt uns so viel, was seine Brüder gar nicht bemerken würden!

EWH: Liam besucht die örtliche Primarschule. Wie geht es ihm dabei?

PZ: Die beiden Lehrerinnen, die Liam in seiner bisherigen Grundschulzeit unterrichteten, waren ein Glücksgriff. Beide waren gut informiert, ließen sich im Umgang mit hörbeeinträchtigten Kindern schulen und stellten sich auf ihn ein. Müssen die Kinder in Eigenregie etwas erarbeiten, legt Liam seine Prozessoren ab, um sich voll konzentrieren zu können. Das akzeptierten die Lehrkräfte von Anfang an und waren überrascht, wie gut er lernt und arbeitet. Jedes Jahr zu Schulanfang ruft die Lehrerin den Mitschülern die Verhaltensregeln im Umgang mit Liams Cochlea-Implantaten in Erinnerung. Die Kinder wissen, dass sie ihm die Prozessoren nicht wegreißen dürfen. Es gab nie Zwischenfälle, im Gegenteil. Die Freunde helfen sich gegenseitig, auch in schulischen Belangen.

Wie ist es eigentlich… mit CI in der Schule? Ein Erfahrungsbericht

EWH: Welchen Rat geben Sie Eltern, die in einer ähnlichen Situation wie Sie sind?

PZ: Der Austausch ist wichtig! Hörverlust und das Cochlea-Implantat sollte man nicht verstecken, sondern darüber reden. Gehörlosigkeit kann behoben werden, doch zu wenige wissen darüber Bescheid. Wir wollen sensibilisieren, aufklären und dadurch Missverständnisse aus dem Weg räumen. Je mehr wir über unsere Situation mit anderen Menschen redeten, desto offener wurden sie. Auch in der Kommunikation mit Liam selbst ist das wichtig. Wer Bescheid weiß, redet direkt mit ihm, schaut ihn an und erleichtert ihm damit das Verstehen. Und wie bei jedem Thema gilt: wer Bescheid weiß, überwindet Berührungsängste!