Links überspringen

Von Canyoning bis Radrennen

Wenn am 13. August in Belgien die Radsport-Europameisterschaft der Gehörlosen beginnt, dann ist Isabelle Boberg mit dabei. Die 27-jährige Profisportlerin zeigt eindrucksvoll, welche Höchstleistungen auch ohne funktionierenden Hörsinn möglich sind. Genau so wie der ambitionierte Wildwasserfahrer und Canyongeher Wolfgang Fischer. Die beiden deutschen Sportler sind taub und hören über sogenannte Cochleaimplantate. Während der EM-Rennen muss Isabelle Boberg die Prozessoren der hochentwickelten Hörimplantate abnehmen – doch beim Training und den normalen Wettkämpfen sind sie immer mit dabei. Und auch Wolfgang Fischer begleiten seine Cochleaimplantate beim Klettern inmitten der tosenden Wassermassen.

Isabelle Boberg ist amtierende deutsche Radsport-Meisterin – im Juni bei den Gehörlosen-Meisterschaften in Dortmund war sie Schnellste im Straßenfahren über 40 Kilometer. Bei den Deaflympics 2013, den Gehörlosen-Weltspielen, gewann sie für Deutschland drei Silbermedaillen. Radfahren ist für sie Leiden und Leidenschaft zugleich, sagt sie. „Man muss in der Lage sein, sich unglaublich hart zu quälen, erlebt dabei aber auch traumhafte Momente.“

Isabelle Boberg mit ihren EM-Medaillen Foto: Michael Pruckner

Die heute 27-jährige hat es mit dem Sport von jeher ernst gemeint. Sie wollte immer Bundesliga-Niveau erreichen und nicht einfach nur Durchschnitt sein. Mit Fußball fing es an. Als sie merkte, dass ihr Talent im Feldhockey liegt, wechselte sie die Sportart. Isabelle Boberg war 13 Jahre alt als sie von der Schule in ihrer Heimatstadt Schweinfurt auf das Internat in München wechselte – ab der siebten Klasse ging sie auf die Samuel-Heinicke Realschule im Stadtteil Nymphenburg. „Ich gebe es zu, ich wollte in erster Linie wegen des tollen Hockey-Trainers dort hin“, lacht Boberg.

Doch es gab noch einen anderen Grund: An der Schule speziell für Schwerhörige konnte sie dem Unterricht wieder folgen. An der vorherigen Regelschule hatte sie Schwierigkeiten mit dem Frontalunterricht und dem Geräuschpegel im Klassenzimmer. Denn Isabelle Boberg ist fast taub. Von Geburt an. In den ersten Jahren fiel das kaum auf bis ihr Onkel eines Tages die Probe aufs Exempel machte. „ Mir wird immer erzählt, dass er sich hinter mich stellte, so dass ich ihn auf keinen Fall sehen konnte. Und dann hat er einen Teller mit lautem Krachen fallen lassen.“ Das kleine Mädchen zuckte bei dem Lärm nicht einmal mit der Wimper und schnell war klar: Isabelle hört so gut wie nichts – sie hatte ein nur sehr geringes Restgehör von 10 Prozent. Bis zum Erwachsenenalter trug Isabelle Boberg Hörgeräte und war getrieben vom sportlichen Ehrgeiz. Sie schaffte es in die 1. und 2. Feldhockey-Bundesliga, stand im Tor und genoss die Erfolge.

Statement auf Isabelles Oberarm: „My Ride, My Fight, My Life“

Sie war 18 Jahre alt als ihr ohnehin stark eingeschränktes Gehör noch schlechter wurde. Also entschied sie sich für ein Cochleaimplantat, das ihr an der Universitätsklinik Würzburg eingesetzt wurde. Auf der implantierten Seite konnte sie nun besser hören als je zuvor – sie hörte die Vögel zwitschern und war erstmals in der Lage, zu telefonieren.

Vom Hockeyfeld auf die Straße

Isabelle Boberg kam recht spät und eher zufällig zum Profi-Radsport. Schon länger nutzte sie das Rennrad für ihr Training. Als sie dann in einem Fahrradgeschäft eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau begann, machte sie gleich Nägel mit Köpfen: Sie verabschiedete sich vom Hockey – und endgültig auch vom Hörgerät. Nach den guten Erfahrungen mit dem Cochleaimplantat, ließ sie sich auch auf der anderen Seite implantieren und hatte endlich auch ein räumliches Hörvermögen. Einem strengen Jahrestrainingsplan folgend kämpfte sie sich bis an die Spitze – mit dem Rückhalt ihrer Kollegen und Vorgesetzten: Sie trainiert vor und nach der Arbeit, nimmt sich Urlaub für die Wettkämpfe. Und nach der Trainingspause jedes Jahr im November greift sie wieder neu an, um für die Wettkämpfe im Frühjahr fit zu sein. „Die gehörlose Welt ist eine sehr soziale, eng-vernetzte Welt“, so Boberg. „Die hörende Welt empfinde ich als wesentlich leistungsorientierter.“ Das sagt die Frau, für die Leistungssport schon von Kindesbeinen immer alles war. Und sie zeigt damit, was sich alles erreichen lässt, auch wenn man nicht hört.

Inmitten tosender Wassermassen

Wolfgang Fischer ist begeisterter Wildwasserfahrer und Canyongeher. Auch er ist gehörlos und trägt anders als Isabelle Boberg bei der EM selbst während des Sports die Prozessoren seiner Cochleaimplantate. „Eines der schönsten Geräusche, das mir meine Implantate wieder zu hören erlauben, ist das Rauschen von Wasser. Ganz besonders wenn es über Stromschnellen oder Wasserfälle in Schluchten und Klammen strömt“, schwärmt er. Canyoning ist Bergsport im Wasser – also eine Sportart, bei der man, dem Lauf des Wassers folgend, eine Schlucht oder Klamm begeht, in der außer ein paar Abseilhaken keinerlei Hilfsmittel vorhanden sind. Man bewegt sich dort wandernd, kletternd, springend, schwimmend oder an hohen Wasserfällen abseilend, je nach Gelände.

Wolfgang Fischer beim Canyoning, Fotos: Hubert Schedler

Ein anstrengender, fordernder Sport, der aus Sicherheitsgründen nur in einer Gruppe ausgeübt werden darf. Dank seiner Implantate kann Wolfgang mit den anderen Sportlern kommunizieren – eine Grundvoraussetzung für das Canyoning. Der hinter dem Ohr getragene Prozessor, der magnetisch am Implantat unter der Kopfhaut haftet, ist nur mit dem richtigen Zubehör wasserdicht. So ausgestattet war Wolfgang im September letzten Jahres bei einem internationalen Canyoning-Treffen auf den Azoren – einem wahren Eldorado für Schluchtengeher.
Da beim Springen und Abseilen im Wasserfall auch größere Kräfte auf den Prozessor einwirken können, hat er ihn zusätzlich gesichert. „Aus einem Stück dünner Reepschnur habe ich ein Halsband angefertigt und von dort mit einem weiteren Stück Schnur den Prozessor festgebunden“, sagt er. „Mir ist es auch tatsächlich mehrfach passiert, dass mir ein scharfer Wasserstrahl den Prozessor weggespült hat, obwohl der Helm die Spule noch zusätzlich festgehalten hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich ihn jedoch wieder eingefangen und befestigt.“

Die Canyoning-Erlebnisse auf São Jorge, einer der zentralen Inseln der Azoren-Gruppe, sind für Wolfgang Fischer unvergesslich. Durch den vulkanischen Ursprung der erdgeschichtlich jungen Inseln finden sich dort spektakuläre Felsformationen aus Vulkangestein. Die Schluchten sind von üppiger Vegetation eingerahmt. Die Schluchten sind sehr steil mit Wasserfällen bis zu 60 Meter Höhe. „Nach diesen Erlebnissen habe ich mir vorgenommen, auch bald wieder mit dem Wildwasserfahren anzufangen.“

Isabelle Boberg und Wolfgang Fischer – zwei Menschen, die ganz eng mit ihrem Sport verbunden sind. Und mit ihren Cochleaimplantaten, die ihnen die Kommunikation mit Trainern und Team-Mitgliedern ermöglichen und eine Welt mit akustischen Eindrücken eröffnen. Wer die Erfolge von Isabelle Boberg bei der Radsport-Europameisterschaft der Gehörlosen in Belgien verfolgen will, findet die jeweils aktuellen Ergebnisse auf der Veranstaltungswebsite: http://www.ecdeafcycling2016.be (nicht mehr verfügbar)
presseinfo_sportsommer_cochleaimplantat_beat_the_silence

[templatera id=“685″]